Von der etwas anderen „Pandemie“

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*Triggerwarnung* Der folgende Text sowie der verlinkte Beitrag enthalten Berichte über sexuellen Missbrauch und gehen auf Missbrauch von Kindern ein.


Corona-Pandemie. Lockdown. Homeoffice. Distance learning. Zu oft gehört, zu oft gesagt. Noch mehr Stunden im Internet. Noch mehr Stunden vor den Bildschirmen. 

Während Skype, Telegram, Whatsapp, Facebook Messenger, Youtube und andere Plattformen und Messenger-Dienste aktuell zu noch wichtigeren Orten der Begegnung für wohl jeden von uns geworden sind, schreibt sich genau an diesen Orten ein besonders dunkles Kapitel der Corona-Pandemie weiter: die sexuelle Gewalt und der sexuelle Missbrauch von Kindern im Internet.


Wenn sexueller Missbrauch zum neuen "Trend" wird

Ich schreibe heute über kein schönes Thema. Aber es ist wichtig. Denn gerade jetzt ist davon auszugehen, dass auch Kinder mehr Zeit denn je im Internet verbringen.

Einige haben wohl mitbekommen, wie Isolationsmaßnahmen dieses Jahr die Zugriffe auf Porno-Webseiten stark anstiegen ließen und populäre Anbieter wie Pornhub prominent von deutlich gestiegener Frequenz auf ihrer Seite berichteten. Weniger bekannt: Auch der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen im Internet hat stark zugenommen. Manche Experten sprechen mittlerweile von einem „pandemischen Ausmaß“. Ein kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichter Artikel bringt verstörendes zutage: Mit der Corona-Krise stieg die Nachfrage nach sexuell missbräuchlichem Material im Internet um 30% an, so EU-Innenkommissarin Ylva Johannson, die sich auf Zahlen von Europol von Juni 2020 stützt. Damit verschärft sich aktuell ein „Trend“, der sich schon über einen längeren Zeitraum beobachtet lässt: Gingen 2010 noch 1 Million Meldungen über explizit sexuell missbräuchliches Material weltweit bei Online-Meldestellen ein und wurden dann an Polizeibehörden zur Ermittlung und Strafverfolgung weitergeleitet, so waren es im Jahr 2017 schon 17 Millionen. Allein Facebook ist laut eigenen Angaben mit der Löschung von rund 3 Millionen Bildern und Videos pro Monat von seinen Servern beschäftigt. Bilder, auf denen Kinder nackt abgelichtet sind oder deren Missbrauch dargestellt wird.  Das ist viel. Viel zu viel.

Minderjährige nicht ausreichend geschützt

Spätestens jetzt mit der Corona-Pandemie wird klar:  Minderjährige sind im Internet nicht ausreichend von sexueller Gewalt und Missbrauch geschützt. Die NZZ schreibt:

Als im Februar und März ein Land nach dem anderen den Lockdown verkündete und sich unser Leben auf die eigenen vier Wände beschränkte, da kursierten viele lustige Videos singender Menschen auf Balkonen; Bilder goldbraun gebackener Sauerteigbrote machten in Whatsapp-Gruppen die Runde, und wir alle lachten, als es hieß, dass Websites mit legaler Pornografie Rekordklickzahlen verkündeten. Doch woran damals kaum jemand dachte, war, dass auch die Nachfrage nach illegalen Inhalten steigen würde. Heute zeigt sich: Die Zahlen überstiegen alle Befürchtungen.“

Warum? Scheinbar folgt dies einer einfachen Formel: Je mehr Zeit Männer und auch Minderjährige im Internet verbringen, desto höher der Missbrauch von Kindern im Netz. Und dazu muss man nicht erst tief ins Darknet abtauchen. Kinderpornografisches Material ist für Täter als auch Kinder nur einen Klick von der nächsten Spieleseite oder dem Chatroom entfernt, auf legalen und für jeden zugänglichen Plattformen. Auf den uns allen bekannten Messenger-Diensten und in diversen Onlineforen werden heftige kinderpornografische Bilder und Videos ausgetauscht. Anonyme Chat-Mitglieder teilen ihre „Sammlungen“ miteinander, tauschen Erfahrungsberichte aus, als auch Tipps, wie man im Internet die eigenen digitalen Spuren verwischt. Oder schlimmer – feuern einander an selbst Kinder zu missbrauchen oder verabreden sich zum gemeinsamen Missbrauch der eigenen Kinder.

Die Ausmaße dieses Austausches im Netz brachte diesen Sommer ein aufgedeckter Missbrauchs-Fall in Deutschland in schockierendem Ausmaß zutage: Ausgehend von einem Verdächtigen, der seine Tochter mehrfach sexuell missbraucht, dabei gefilmt und das Material mit anderen im Internet geteilt hat, wurde die größte Ermittlung wegen sexueller Gewalt an  Kindern in der Geschichte der deutschen Bundesrepublik ausgelöst. Über Chatverläufe konnten mehr als 30.000 digitale Identitäten ausgemacht werden, denen StrafermittlerInnen mittlerweile nachgehen. Möglich, dass jede digitale Identität, jeder Nickname, für eine Person steht, die sich durch den Besitz oder die Verbreitung von Kinderpornografie oder gar den Missbrauch an Kindern selbst schuldig gemacht hat (Zum Vergleich: in ganz Deutschland sitzen aktuell knapp 60.000 Menschen wegen aller möglichen Delikte in Haft). Das sind nicht ein paar wenige Männer. Das sind viele, richtig viele. Daten im Terabyte-Bereich wurden festgestellt, 430 Stunden Filmmaterial.  Zu sehen: Sexuelle Abgründe, „für die es kaum Worte gibt“, wie Ermittler berichten.


Es beginnt meist mit legaler Pornografie

Kinderschänder als kranke Einzeltäter? Sadisten oder „Monster“ als Randfiguren unserer Gesellschaft? Was der Fall in Deutschland zeigt und laut NZZ auch von Studien bestätigt wird, mag auf den ersten Blick überraschen: Explizit pädophile Neigungen haben die wenigsten Konsumenten von kinderpornografischen Inhalten. Es sind normale Väter, Ehemänner, Onkel, Nachbarn, Lehrer – Männer aus der Mitte der Gesellschaft, mit „Durchschnittsbiografien“. In vielen Fällen berichten Männer, dass sie ausgehend von legaler Pornografie und immer expliziteren Videos von sehr jungen und jugendlich wirkenden Frauen irgendwann Kindergesichter vor sich auf dem Bildschirm hatten. Private oder berufliche Krisen, Eheprobleme, Stress können auch oft der Auslöser sein. Es geht um „Druck ablassen“, um Macht, wie ein Täter berichtet. Missbrauch beginnt in der Fantasie. 

Natürlich gilt es zu unterscheiden zwischen jenen die „konsumieren“, die „nur“ Bilder und Videos von Kindesmissbrauch sammeln, und jenen die selbst Kindern Gewalt antun und das Material dann im Internet teilen (oft die Eintrittskarte, um in gewisse Netzwerke zu gelangen, wie ein Täter berichtet). Jedoch: Hinter jedem kinderpornografischen Bild, das im Internet angeklickt wird, steht ein sexuell ausgebeutetes Kind.  Zeigt nicht allein die Verwendung des Wortes „Kinderpornografie“, das wir damit verharmlosend etwas bezeichnen, was eigentlich die Folter von Minderjährigen ist? Eine Straftat, ein Machtmissbrauch, eine Qual und eine gezeichnete Kinderseele hinter jedem Bild. Laut Weltgesundheitsorganisation haben schätzungsweise 1 Million Mädchen und Jungen in Deutschland sexuelle Gewalterfahrungen gemacht. Wenn das stimmt, sind das 1 – 2 Kinder pro Schulklasse. Das sind viele. Zu Viele. (Ein deutscher Kinder- und Jugendpsychiater, der viel zum Thema Kindesmissbrauch forscht, zieht den traurigen Vergleich„Solche Zahlen von Betroffenen kennt man sonst nur von Volkskrankheiten wie Diabetes.“)

Und die Digitalisierung hat die Hemmschwelle herabgesetzt. Männer finden Gleichgesinnte, erkennen dass es da viele andere gibt, die ähnlich handeln und denken – eine Community, in der die eigenen Taten und Vorlieben legitimiert werden. Wie leicht man an kinderpornografisches Material gelangt und wie unverfroren über Gewalt an Kindern im Internet ausgetauscht wird, ist der eigentliche Skandal. Als Gesellschaft gehen wir von einem Konsens aus, der der sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen Null-Toleranz einräumt, „und doch genügen zwei, drei Klicks, und schon ertrinkt man in einem Bildermeer nackter Kindergartenmädchen, die zu aufreizenden Posen gezwungen werden.“

Die Internet Watch Foundation, eine Organisation, die sich der Bekämpfung von sexuellem Missbrauch im Internet verschrieben hat, berichtet von einer Zunahme von sogenanntem „Cybergrooming“. Dabei nehmen Männer in Chats (oft in Chats von Spieleseiten) Kontakt mit Kindern auf, gewinnen ihr Vertrauen („groomen“ = werben), lassen sich irgendwann Nacktfotos oder Videos schicken und belästigen die Kinder sexuell. In Live-Stream Videosessions dirigieren Männer zunehmend Handlungen von Kindern, teils am anderen Ende der Welt. Erschreckende Realität: 44% des von der Internet Watch Foundation identifizierten und an Behörden gemeldeten missbräuchlichen Materials, wurden von Minderjährigen selbst hergestellt.

Während der Konsum und der Handel von und mit Kindesmissbrauch und Gewalt an Minderjährigen zunimmt, kommt die Strafverfolgung kaum hinterher. Der Bekämpfung von Cyber-Kriminalität wird sicherlich noch nicht die Priorität eingeräumt, die es bräuchte, wenn wir als Gesellschaft Kinderschutz wirklich ernst nehmen wollen. Vielleicht fehlt es auch noch an dem nötigen Eingeständnis, dass Kindesmissbrauch in der Mitte unserer Gesellschaft tagtäglich passieren kann und passiert. 

Die Nachfrage muss im Mittelpunkt stehen

Genauso wichtig wie die systematische Bekämpfung und Strafverfolgung von Kindesmissbrauch im Internet, ist es zu überlegen, wie wir damit umgehen, dass die Nachfrage nach Bildern und Videos, die den Sex mit Minderjährigen verharmlosend darstellen, dermaßen hoch ist. Die Leiterin einer niederländischen Kinderschutzorganisation bringt es auf den Punkt: 

«Wir müssen etwas gegen die Männer tun, die Sex mit Minderjährigen für normal halten. Es sind oft solche, die zu viel legale Pornos schauen und irgendwann die sexuellen Reize erhöhen und bei illegalen Inhalten landen.»

Denn, und davon sind wir bei lightup überzeugt, Nachfrage generiert Angebot. In einer Zeit, in der „Teen“ bei Pornhub zu einem der meist gesuchten Stichwörter zählt, und Pornos mit jugendlich und kindlich wirkenden DarstellerInnen sich ungebrochener Beliebtheit „erfreuen“, findet eine konstante De-Sensibilisierung der KonsumentInnen statt. (Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie Darstellungen von expliziter Gewalt, Vergewaltigungen oder Kindesmissbrauch auf legalen Pornoseiten wie Pornhub auftauchen, dann lies mal diesen kürzlich in der New York Times erschienen Artikel, der aktuell die Mainstream-Seite Pornhub in Erklärungsnot bringt).

Darüber wollen wir reden. Das wollen wir hinterfragen. Das wollen wir nicht so hinnehmen. Denn: Während in der vor ein paar Jahren angestoßenen MeToo-Bewegung erwachsene Frauen weltweit auf Belästigungen und sexuelle Gewalt aufmerksam gemacht haben und ihre Stimme erhoben haben, fehlt es Minderjährigen, die Ähnliches erlebt haben, oft an dieser Stimme. Kinder verstehen oft nicht, was ihnen da passiert, ob Online oder in Realität, die Scham darüber zu sprechen ist (zu) groß, und doch begleiten die Missbrauchserfahrungen oft ein Leben lang. Kinder brauchen FürsprecherInnen, die sich für sie einsetzen, eine Lobby, die dem Worte gibt, was wir oft gar nicht wahrhaben wollen.

Bei Lightup haben wir die Vision einer Gesellschaft, in der es keine Nachfrage nach sexueller Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie gibt. Wir glauben, dass durch Bewusstseinsbildung auch Kinder und Jugendliche einen positiven Umgang mit der eigenen Sexualität leben können und sie in einer Gesellschaft aufwachsen sollen, die sie vor Gewalt schützt. Auch im Internet. 

Und in dieser Bewusstseinsbildung kann jeder von uns eine Rolle spielen. Werde Teil der Diskussion, werde selbst zu einer Fürsprecherin/einem Fürsprecher für jene, denen keine Stimme gegeben wird!

Dina
Diskutiert mit! Wenn ihr Fragen habt, oder euch austauschen möchtet, dann meldet euch gerne unter info@lightup-movement.at oder schreibt mir dina.sautter@gmail.com)

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"Es bewegt sich was und das gibt mir Hoffnung" #Shut.It.Down #TraffickingHub

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Menschenhandel im Zeichen von Corona